4. Juli 2014

Solidarität mit Care-Migrantinnen

Dieser Artikel erschien ursprünglich im grün-feministischen Blog Grün ist Lila, welches ich zusammen mit anderen grünen Frauen betreibe.
Das deutsche Pflegesystwhocaresem beruht auf traditionellen Rollenvorstellungen, Care-Arbeit wird der Familie und damit hauptsächlich den Frauen zugewiesen. Diese Rolle wird in Deutschland von Frauen aber immer weniger ausgeführt und einige Familien stellen zu meist ungerechten Bedingungen Care-Migrantinnen ein um die Versorgungslücke zu füllen. Wie Kritik daran üben? Und wie solidarisch sein? 
Situation von Care-Migrantinnen in Deutschland
In Deutschland arbeiten zwischen 100.000 und 150.000 Migrant_innen aus Ost- und Mitteleuropa, größtenteils Frauen, in der häuslichen Betreuung und Pflege. Häufig leben sie im Haushalt der zu betreuenden Person und übernehmen dort eine 24h-Betreuung. Nach einigen Wochen oder Monaten wechseln sie sich mit einer anderen Frau ab (Pendelmigration). Bei eigenen Care-Verpflichtungen im Heimatland werden diese in der Abwesenheit meistens von den Großmüttern wahr genommen. Häufig arbeiten auch Frauen in diesem Bereich, die bereits in Frührente sind, davon aber nicht leben können und so ihre Familie unterstützen. Manche Frauen arbeiten komplett irregulär, andere haben ein Entsendeunternehmen und werden über eine Agentur vermittelt. Hinsichtlich der Art der Beschäftigung gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, je nach dem ob die Frauen aus einem EU-Land (mit Freizügigkeit) oder aus Drittstaaten kommen. Die Löhne schwanken zwischen 600 und 1500 Euro pro Monat. Selten gibt es Regelungen zu Arbeitszeit, bezahlten Urlaub oder Krankheit. Die Migrantinnen sind nur schlecht oder gar nicht sozialversichert. Ihre Arbeit zeichnet sich durch die Erlebnislosigkeit eines eintönigen Alltags, durch den Mangel an Freizeit und Erholung und völliger Abhängigkeit von den Arbeitgeber_innen aus. Die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen sehen sich selbst als Kund_innen einer Dienstleistung an, sind aber eigentlich Vorgesetzte, da z.B. die Weisungsbefugnis bei Ihnen liegt. Die daraus entstehende Verantwortung nehmen sie aber kaum wahr und sind häufig mit ihrer Rolle überfordert. Die Care-Migrantinnen hingegen werden häufig als Familienersatz eingestellt, übernehmen nicht nur die Pflege, sondern auch die soziale Beziehungsarbeit, was wiederum mit einer psychischen und seelischen Belastung einher geht, gerade wenn die Pflegebedürftigen unter Demenz leiden. Mit ihrer Arbeit füllen sie eine Care-Lücke, die u.a. aus der familialistischen Konzeption unseres Pflegesystems und zeitgleicher Defamilialisierung entsteht. Die Form der prekären Beschäftigung ist also Symptom eines größeren Problems.

Wie Kritik üben?

Ich könnte Angehörige beschimpfen, dafür, dass sie Menschen zu so schlechten Bedingungen einstellen anstatt selber Verantwortung zu übernehmen, dafür, dass sie die Armut von Menschen im globalen Süden und Osteuropa ausnutzen, dafür, dass sie zu Global Care Chains und Care Drains beitragen. Aber am Ende handeln alle Beteiligten aus Notlagen heraus und betrachten häufig diese Arrangements als win-win-Situationen. Die einen, weil sie so die häusliche Pflege ihrer Angehörigen sicher stellen können (zu einem Preis, den sie sich auch erst mal leisten können müssen), die anderen, weil sie so ein Einkommen erzielen, was sie in ihrem Herkunftsland so nicht könnten. Doch optimal ist dieses Arrangement auf keinen Fall. Für mich ist klar: Jemand der 24 Stunden, 7 Tage die Woche arbeitet oder Bereitschaft hat und dazu noch zu so schlechter Bezahlung, kann keiner gerechten, kann keiner regulären Arbeit nachgehen.

Die häusliche Umgebung halte ich als Arbeitsort auch grundsätzlich für problematisch – gerade bei zeitlich umfangreicher Care-Arbeit. Hinzu kommt, dass hier ein irregulärer Arbeitsmarkt ohne Qualitätssicherung, ohne Rechte und ohne soziale Absicherung für die Beteiligten entstanden ist. Doch diese Form der Arbeit einfach als „Schwarzarbeit“ oder als moderne Form eines Dienstmädchenwesens zu verteufeln und zu bekämpfen, ist unsolidarisch und verkennt, dass die Verantwortung für die Sorgearbeit dann nur wieder bei anderen Frauen liegt. Entweder sind die Frauen Schuld, die als Care-Migrantinnen kommen und angeblich keine gute Arbeit verrichten bzw. reguläre Arbeitsplätze durch Lohndumping verdrängen oder die Frauen, die ihre Angehörigen nicht pflegen können oder möchten. Women bashing at it`s best! Nein. Die Frage nach einer angemessenen, würdigen Pflege muss anders, muss neu beantwortet werden.

Das Pflegesystem kritisieren!

Unser Wohlfahrtsstaat und insbesondere unser Pflegesystem in Deutschland ist familiär konzipiert. Zwar gibt es seit 1995 die Pflegeversicherung, hierbei wurde aber der Vorrang der häuslichen Pflege festgehalten und die Leistungen aus der Pflegeversicherung sollen die Pflegebereitschaft von Angehörigen und Nachbar_innen unterstützen. Es werden Pflegegeld oder Sachleistungen bis zu einer Höchstsumme gezahlt, den Rest haben die Pflegebedürftigen oder Angehörigen zu leisten – ob nun ehrenamtlich oder finanziell. Bei der Pflegeversicherung handelt es sich sozusgen um eine Teilkasko- und nicht um eine Vollversicherung. Wenn die Angehörigen nicht selber pflegen wollen oder können, ist es die kostengünstigste Variante eine Care-Migrantin einzustellen. Ein Pflegeheim wäre meist teurer und eine reguläre 24 Stunden Pflege und Betreuung nicht bezahlbar. Hinzu kommt, dass die meisten Pflegebedürftigen und häufig auch ihre Angehörigen die Unterbringung im Pflegeheim ablehnen und die häusliche Umgebung präferieren.

Zeitgleich können wir in den letzten Jahren, wenn nicht sogar Jahrzehnten, einen Prozess der Defamilialisierung feststellen. Immer weniger Menschen leben in festen familiären Zusammenhängen, die Anzahl von Single-Haushalten nimmt zu, die Größe von Mehrpersonenhaushalten ab. Immer seltener lebt die ganze Familie in einer Stadt, räumliche aber auch emotionale Distanz nimmt zu. Hinzu kommt, dass Frauen nicht mehr in der Form für unbezahlte Care-Arbeit zur Verfügung stehen wie früher, dies setzt unser Pflegesystem aber voraus. Dass hier eine Lücke entsteht, liegt auf der Hand. Und in dieser Lücke stellen die Familien Care-Migrantinnen ein, die ihre eigene Familienrolle gegen Bezahlung übernehmen sollen.

Wir brauchen also eine Veränderung des Pflegesystems – hin zu einer Vollversicherung, hin zu richtiger gesellschaftlicher Verantwortung, hin zu einer Bürger_innenversicherung. Und dabei ist auch der Vorrang der häuslichen Pflege zu überdenken. Für all das – gerade mit dem Vorzeichen des demografischen Wandels – brauchen wir eine gesellschaftliche Debatte: Wie sieht gute, teilhabeorientierte und auf Selbstbestimmung ausgerichtete Pflege aus? Wer soll Pflegearbeit leisten? Wie sieht eine geschlechtergerechte Verteilung aus? Was wollen wir uns gute Pflege kosten lassen? Aber auch: Wie können wir den Arbeitsmarkt für haushaltsnahe Dienstleistungen gerechter gestalten?

Wie solidarisch sein?

Und das führt mich zurück zur Situation der Care-Migrantinnen, welche es zu verbessern gilt. Wie aber eine Arbeitssituation verbessern, die von Tabuisierung, Irregulärität und grundsätzlich von ungerechten Arbeitsbedingungen gekennzeichnet ist? All unsere Debatten um ein (geschlechter-) gerechtes Pflegesystem nützt diesen Pflegekräften erst mal nicht viel – genauso wenig der Verlust der Arbeit, welche für sie ja häufig eine Verbesserung ihrer Verhältnisse und mehr Unabhöngigkeit bedeuetet. Wir sollten also die Migrantinnen mit mehr Rechten ausstatten und dafür sorgen, dass sie diese auch wahrnehmen können. Sie dürfen keine Angst vor Entdeckung oder gar vor Abschiebung haben und müssen unkompliziert Beratung und Unterstützung bekommen. Der Staat sollte Verbände unterstützen, die eine (Weiter-) Vermittlung in faire (Pflege-) Arbeit übernehmen. Aber auch über Mindeststandards und soziale Absicherung sollte geredet werden. Und vielleicht gibt es auch Möglichkeiten die Angehörigen (anonym) in ihrer Rolle als Vorgesetzte zu schulen, so dass sie diese verantwortungsvoller wahrnehmen können. Und schlussendlich sollten wir die Migrantinnen in ihrer Selbstorganisation und Interessenvertretung unterstützen und in größere Kämpfe im Sinne einer Care-Revolution einbinden. Denn Solidarität und das gemeinsame Streiten für eine gerechte Verteilung von Care-Arbeit sollten an vorderster Stelle stehen.